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Von eva Dymodel, Kirill Junolainen und Sergey Mombus..

Murmansk nonkonform

Träume um Russland

Geschichten von unverwirklichten Träumen im hohen Norden Russlands. Kunstproduktion und Künstler aus Murmansk im Portrait.
Von Seva Dymodel, Kirill Junolainen und Sergey Mombus.




Murmansk, die größte über dem nördlichen Polarkreis gelegene Stadt, ist im Grunde eine Ansiedlung von Menschen mit niedrigem Serotonin-Gehalt – ganz besonders in den langen Polarnächten. Das Amin Serotonin kommt als Hormon in der Gehirnregion vor. Es bewirkt eine Verengung der Blutgefäße und steuert Gemütszustand, Schlafrhythmus, Sexualtrieb und Körpertemperatur des Menschen.
Nur zweimal im Jahr geht im hohen Norden die Sonne in einem normalen Tag-Nacht-Rhythmus auf und unter. Der Murmansker befindet sich dadurch praktisch ständig in Konflikt mit seinem Biorhythmus. Einige schaffen es nur mit Ach und Krach, einem gewöhnlichen Tagesablauf zu folgen, und fühlen gewöhnlich eine Art innere Rastlosigkeit, die oft an eine manische Depression grenzt. Das Bedürfnis, kreativ zu sein, überkommt die Menschen ganz plötzlich, verschwindet aber genauso schnell wieder. So entstehen in Murmansk künstlerische Vereinigungen sehr spontan, lösen sich jedoch auch bald wieder auf. Dennoch: Die Stadt vergisst ihre „Helden“ nicht. Die, die sich in der Vergangenheit selbstsicher gegen den Mainstream behaupteten: „Strange Breams“, „Lazer Kontinent“, „Los Ingredients“, „Opisiktr“, „Ivan Nepadai“ oder „Bakterii“. Aber eins nach dem anderen.

Wahrscheinlich fing alles mit der Perestroika an. Vielleicht auch etwas früher. Anfangs schöpften wir aus uns selbst, denn weder der Punk noch die industrielle Musik erreichten in den siebziger und achtziger Jahren die kalten Gewässer der Barentssee. Nach der Öffnung des Eisernen Vorhanges jedoch schwappte dann die „Welle“ zu uns herüber und überrollte die junge Generation, die hungrig die Impulse aus dem Westen aufsaugte. Ende der achtziger Jahre war damit der Boden der Kola-Halbinsel fruchtbar genug, damit die ersten Keime des Unklaren und Widersprüchlichen, des Märchenhaft-Rätselhaften unter dem Namen „Noise“ austreiben konnten. Besonders aktiv waren damals zwei Künstlergruppierungen: „Strange Breams“ und „Lazer Kontinent“.

„Strange Breams“ aka Sergey Mombus, Denis Shaposhnikov, Vasili Ryabkov und Kostja Sinev beschäftigten sich nicht nur mit Musik, sondern produzierten mit einer Super 8-Kamera Kurzfilme, und sie fotografierten und bauten Installationen an den Ufern der Kola-Bucht. Diese genialen Dilettanten machten eine Farce aus allem, was sie anfassten, legten jedoch dabei stets einen hohen Respekt gegenüber der Kunst an den Tag. Sound produzierten sie eher spontan. In ihrem Performance-Radio „Dake“ (auf Deutsch: „Leibeigenschaft“) bastelten sie Soundcollagen aus allem, was Töne erzeugte: aus kaputten Funkgeräten, Plattenspielern, Spieldosen, elektrischen Weckern und mechanischem Spielzeug. Für die Perkussion wurde alles verwendet, was so rumlag: Geschirr, ein auseinander genommener Konzertflügel, alte Mikrophone, Bügeleisen, sogar Haustiere. „Strange Breams“ existierten bis Anfang der neunziger Jahre und drifteten dann friedlich auseinander, wie Schiffe auf dem Meer, jedes einem anderen neuen kreativen Äquator entgegen.

„Lazer Kontinent“ (LK) existierte länger. Igor Stepovyi und Kirill Junolainen erforschten die Grenzbereiche zwischen Noise, Ambient und New Wave. „Unsere ursprüngliche Idee war sehr einfach“, erzählt Kirill Junolainen. „Wir wollten Musik ohne Musikinstrumente machen. Stattdessen spielten wir alle denkbaren und undenkbaren Dinge, angefangen von der Bohrmaschine bis hin zu Bruchglas. Wir nahmen aus Prinzip nichts auf Tonträger auf; es ging uns einfach um das L’art pour l’art.“
Diese Idee schränkte LK jedoch bald zu sehr ein: „Bands wie ‚Throbbing Gristle’, ‚SPK’, ‚Psychic TV’, ‚Coil’ oder ‚Cabaret Voltaire’“, meint Junolainen, „hatten schon vor uns dieses Konzept realisiert, wir hatten nur in unserer Isolation und Abgeschlossenheit davon noch nichts mitgekriegt. Aber einen Vorteil hat das immerhin gehabt: In unserer kleinen Welt UdSSR hatten wir uns unsere Spontaneität erhalten. Aufnahmen von Bands wie ‚Einstürzende Neubauten’ kamen über die verschlungensten Wege zu uns und nicht zuletzt deswegen meist mit einer riesigen Verspätung.“
Im Jahr 1991 nahmen LK Herkömmlicheres wie Klavier, Gitarre und Schlagzeug in ihr Instrumentarium auf. Niemand aus der Band verfügte über eine klassische Musikausbildung. Die Musik wurde mit der Zeit immer elektronischer, aber auch weniger spontan. Diese Entwicklung wurde zusätzlich durch den Zerfall der Sowjetunion beschleunigt, wahrscheinlich die entscheidende äußere Wendung im künstlerischen Schaffen von LK.
„Damals, in Zeiten des Umbruchs, bekamen wir in der Schule den ersten Informatikunterricht“, erzählt Kirill Junolainen, „und obwohl es damals noch Steinzeitgeräte wie die Personalcomputer ‚Elektronika’ und ‚Vektor’ gab, beeindruckten sie uns angesichts der neuen Möglichkeiten doch sehr. Wie kauften uns wenig später schon einen ähnlichen PC, „Lvov“, Lemberg, hieß er, und tauchten gierig in die Welt der Elektronik ein“, so Junolainen. „Wir berauschten uns an den neuen Formen der elektronischen Musik wie Techno, Acid-House, Ambient-House, Oldscool Hardcore, Rave, Electro. Dieser gigantische Strom der uns bis dahin unbekannten Musik verschlang uns buchstäblich“, erinnert sich Junolainen weiter. „Wir haben fast ein Jahr gebraucht, um die unglaublichen Musikmengen durch uns durchzufiltern, und empfanden dabei eine überbordende Euphorie. Unser musikalischer Horizont verschob sich vollends.“

„Opisiktr“ und „Los Ingredients“: Mitte der Neunziger fing die westliche Klubkultur an, die Gemüter der Murmansker Jugend in Wallung zu bringen. Mit weitreichenden Folgen: Ende des 20. Jahrhunderts blieb in der Hauptstadt der Sapoljarje-Region nur mehr ein einziges nonkonformes Projekt mit Namen „Bakterii“ übrig, das nebenbei auch unter dem programmatischen Titel „Ogon’v glasach“ (russisch für „Feuer in den Augen“) agierte. Der Journalist Andrei Turusinov, Macher des Online-Magazins für alternative und nonkonforme Musik „Resultaty“, schrieb über die Band: „Ein Wahnsinns-Projekt. So eine Verbindung aus Sound und Noise-Manipulationen habe ich noch bei niemandem gehört. Nur einmal erlebte ich Analoges zu diesem Klang: Ich übernachtete in einer Hütte auf der Kurischen Nehrung (bei Kaliningrad, ehemals Königsberg, Anm. d. Red.), nahe des Ufers. Mitten in der Nacht wachte ich wegen eines schrecklichen Dröhnens auf, das ich kaum auszuhalten vermochte. Als ich eine Kerze anzündete, verstand ich, dass es die tödliche Stille und Dunkelheit waren, die meinen Ohren solchen Schmerz bereiteten.“
Die Gruppe „Bakterii“ existierte leider ebenfalls nicht lange. Elektroakustische Projekte gab es bis Mitte der Neunziger immer weniger, und wenn, dann gaben sie sich eher gefällig und von westlichen Einflüssen geprägt. Richtig aktiv waren nur mehr zwei Kollektive: „Opisiktr“ oder „Los Ingredients“.
Das Bandmitglied Seva Dymodel erinnert sich: „In den Zeiten des Kalten Krieges gab es besonders in den Provinzstädten der Sowjetunion einen musikalischen und kulturellen Informationsnotstand, der sich desto größer ausnahm, je weiter man von Sankt Petersburg und Moskau entfernt lebte. Dennoch existierten Möglichkeiten, an heiße Infos ranzukommen – nämlich durch den direkten Kontakt mit dem Westen.“
Murmansk ist bekanntlich eine Hafenstadt. Über den Meeresweg wurden nicht nur Kleider, Autos und Haushaltselektronik importiert, sondern auch Musik und Magazine. Demnach existierte in Murmansk im Vergleich zu anderen Provinz-Sowjetstädten ein Mindestmaß an Informiertheit.
„Wahrscheinlich hat jede russische Familie ihre eigenen Anekdoten und Legenden zum Thema Zoll zu erzählen, so auch meine“, erklärt Seva Dymodel. „Die folgende zeigt wunderbar, wie schwierig es war, etwas aus dem ‚verdorbenen Westen’ zu importieren: Mein Onkel war, wie auch mein Vater und Großvater, Marineoffizier. Er kaufte sich in Kanada einen ‚Montana’- Jeansanzug, in der Sowjetunion damals ein besonders populäres Label. Bei der Zollkontrolle auf der sowjetischen Seite wurde mein Onkel mit folgender Bedingung für den Jackenimport konfrontiert: Die Jeans durften nur in die UdSSR eingeführt werden, wenn der Adler, das ‚imperialistische Besatzungssymbol der westlichen Politik’, mit dem jeder Knopf des Kleidungsstücks geprägt worden war, entfernt würde. Meinem Onkel blieb nichts anderes übrig, als ‚die feindlichen Vögel’ mit Hilfe einer Feile zu entfernen. Der restliche Teil des Jeansanzugs kam wohlbehalten auf sowjetischem Territorium an. Ich weiß nicht, wie schwierig es war, an Musikproduktionen aus dem Westen zu kommen, aber dank desselben Onkels hörte ich anfangs der achtziger Jahre viel westliche Musik: von ‚Pink Floyd’ bis ‚ZZ Top’, von ‚Boney M’ bis ‚Rainbow’.“

Zum Kollektiv „Opisiktr“. Diese Formation konnte mit keinem Publikumserfolg rechnen. Zu diesem Zweck war sie aber auch gar nicht gegründet worden – eher zur Selbstverwirklichung und zum Zeitvertreib unter Gleichgesinnten. Die Bandmitglieder spielten mit einer kaputten akustischen Gitarre, einem batteriebetriebenen Kindersynthesizer, einem mit Kunstleder bezogenen Stuhl, den sowjetischen Technikwundern „Clapper“ und „Rototron“ (sowjetische analoge Drum Pads) als Perkussionsinstrumenten und einer Fünfliter-Blechdose für die Stimmeffekte. Auf diese Weise hat „Opisiktr“ immerhin mehr als zehn lustige CDs aufgenommen.
Aber irgendwann entschlossen sie sich, doch Musik für ein breiteres Publikum zu machen. Das Equipment wurde „erwachsener“, es gab Synthesizer, Bassgitarre, Perkussionsinstrumente, man arbeitete auch im Studio, dennoch unterschied sich die Musik von „Opisiktr“ nach wie vor gravierend von dem, was viele andere Murmansker Rock-Kollektive produzierten. Das letzte Konzert von „Opisiktr“ fand unter dem Titel „Wunderbarer Kitsch“ statt. Zu hören gab es Akkordeon, Bass, Kinderxylophon, Walzertakte, Nahost-Melodien, Kinderreime und Gedichte über den Teufel, die mit der im Background abgespielten Fernseh-Wettervorhersage besonders gut harmonierten.

„Los Ingredients“ fing ungefähr zur selben Zeit wie „Opisiktr“ an, aber hier war alles sehr ernst, vielleicht zu ernst. Der Frontmann Evgeny Yushin war Mathematik- und Physik-Student und Mitglied des Philosophischen Kreises. Er liebte Rockmusik, Gitarrensound und gute Geschichten, in denen die Protagonisten wie bei Dostojewski durch die Straßen der Städte irrten. Und er war Fan von russischen Märchen à la „über einen Milchfluss fliegt ein psychedelischer Regenbogenvogel“. In der Zeit, als „LI“ sich formte, arbeitete Yushin als Nachtwächter auf einer Baustelle. Während der Nachtschichten fanden dort die ersten Musikproben statt, bei denen man sich einsoff und -rauchte. Bei öffentlichen Auftritten spielte die Band mit dreckigem Sound. Der gute Spirituosengeist flog dabei über die Bühne und das Publikum wurde mit rauen Gitarren-Riffen, durch die Luft segelnder Frauenunterwäsche, großer Poesie und Schimpftiraden erobert.

Aber diese Zeiten sind wohl für immer vorbei. Die Musiker heute erinnern bei Live-Auftritten immer mehr an versteinerte Götzen, die vor ihren Laptops verharren und angespannt ihre Raubkopien von „Abletone Live“, „Reactor“, „Vegas“ und trivialem „Tracktor“ anstarren.


Seva Dymodel (geboren 1974), Ur-Murmansker, Mitglied der Musikprojekte „Los Ingredients“, „Opisiktr“, „Mombus & Bacillus“-Orchestra. Zurzeit agiert er als Oberhaupt des Künstlerkollektivs „Koleso solnzevorota" (russisch für „Sonnenwende“), das Feste organisiert und die Volkstradition erforscht.

Kirill Junolainen aka „Kasio“ lebt und arbeitet in Turku und Murmansk und gilt als einer der einflussreichsten Elektronikmusiker der Region. Er ist seit 1990 aktiv und organisiert Partys und Raves in Murmansk.

Sergey Mombus (geboren 1974) lebt und arbeitet in Murmansk. Als Mitarbeiter des polaren wissenschaftlichen Forschungsinstitutes beschäftigt er sich mit der Zucht von Kamtschatka-Krabben und Nordgarnelen in der Barentssee. In seiner Freizeit macht er Musik, dreht Videos und organisiert Festivals.

Übersetzung aus dem Russischen: Anna Michailova


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Dezember 2005



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